Die Erzählstruktur von Memento zwingt den Zuschauer, ebenso wie den Protagonisten Leonard, die Wirklichkeit zu konstruieren, und den Wirklichkeitsgehalt einer jeden Szene zu überprüfen. Da sich Leonard wie bereits dargelegt wurde, nicht an seine Erlebnisse nach dem Überfall erinnern kann, könnte man von einem unzuverlässigen Erzähler sprechen. Manuel Zahn hingegen weist in seinem Text „Memento – Zur Zeitlichkeit des Films und seiner bildenden Erfahrung“ eben auf die Möglichkeit hin, es handele sich nicht einfach um eine unzuverlässige Erzählung, sondern eventuell um eine Variante einer falsifizierenden Erzählung nach Gilles Deleuze. Diese zeichne sich aus durch eine Negation temporaler und kausaler Linearität aus und setze „in der Gegenwart unerklärbare Differenzen und in der Vergangenheit unentscheidbare Alternativen zwischen dem Wahren und dem Falschen“ 1. Somit sind das Wahre und das Falsche voneinander nicht unterscheidbar.
Für Manuel Zahn ist Memento „ein Beispiel für einen Zeitbild-Film […], der in seinem Erscheinen-lassen, […], seinen Zuschauern eine komplexe Zeitlichkeit gibt, die es ermöglicht, sowohl über die Zeit des Films, seine Bild-Bildungs-prozesse als auch über die Zeitlichkeit der Film-Erfahrung zu reflektieren, (über) sie nachzudenken.“ (Zahn, S.71.) Nach Deleuze war im Vorkriegskino besonders das Bewegungs-Bild vorherrschend, in dem die Zeit dem Bild untergeordnet war, und somit nur indirekt vom Zuschauer wahrgenommen wurde. Im Film der Nachkriegszeit sei jedoch das Zeit-Bild vorherrschend, in der die Zeit das Bild dominiert, in dem die Figuren nicht handeln und selbst zu Zuschauern werden. Dabei spielt u.a. das Kristallbild eine wichtige Rolle, in dem nach Deleuze Virtuelles und Aktuelles nebeneinander stehen, das Imaginierte und das Vergangene das Gegenwärtige überlagern, und das im Film zu sehende Bild um weitere Bedeutungen bereichern, die aber aus dem Gegenwärtigen alleine nicht zu deuten sind2. Die Frage, die daraus resultiert ist folgende: Kann die Erzählstrategie des Films anders interpretiert werden, ohne auf den besonderen Zustand des Protagonisten einen Rückbezug zu machen?
Zahn stellt vier Zeitlichkeiten fest: 1.) die Zeit der Erzählhandlung in Farb-Szenen, die rückwärts erzählen, 2.) die Zeit der Schwarz-Weiß-Szenen, die vorwärts laufen, 3.) die Erinnerungen Leonards in Form von Flashbacks, 4.) eine Zeit der Film-Erfahrung, die sich aus der Interdependenz der vorherigen drei Zeitebenen ergibt, und die abweichende Deutungen zulässt.
Dadurch, dass der Zuschauer sich in der gleichen Situation wie Leonard befindet, und umgekehrt, auch der Protagonist manchmal sich in der registrierenden Situation eines Betrachters wiederfindet, der nur beobachtet ohne zu handeln, scheitere eine vollständige Identifikation des Zuschauers mit der Hauptfigur. „Nolans Film ist nicht mehr Medium des Wiedererkennens einer gegebenen Welt […], sondern wird Erkenntnismedium einer filmischen Welt von Bewegungs- und Zeitbildern, von audiovisuellen Wahrnehmungen, die mich als Betrachter zwingen meine am klassischen Erzähl- und Handlungskino gebildete klischeehafte Logik und Sehgewohnheit zu bedenken.“ (Zahn, S.73.)
Memento präsentiert dem Zuschauer Momente des Erlebens, des Erinnerns, des Handelns, die erst eine Konstruktion einer Identität und eines Ich ermöglichen durch einzelne, losgelöste Situationen.
Wenn wir Memento also anders anschauen, über unsere gewöhnlichen Sehgewohnheiten hinaus, was im Grunde schon durch die rückwärts laufende Erzählhandlung dem Zuschauer suggeriert wird, können wir vielleicht andere Bedeutungsebenen entdecken, die sich sonst verschließen würden. Einige dieser Deutungsmöglichkeiten sollen hier im weiteren Verlauf der Analyse umrissen werden.
Fußnoten:
1Deleuze, Gilles (1999): Das Zeit-Bild. Kino2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2. Auflage, S.175.
2 Vgl. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=6672, aufgerufen am 03.02.2015
Literatur:
Deleuze, Gilles (1999): Das Zeit-Bild. Kino2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2. Auflage
Zahn, Manuel: Memento – Zur Zeitlichkeit des Films und seiner bildenden Erfahrung. In: Buckow, Jörissen, Fromme (Hg.): Raum, Zeit, Medienbildung. Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit, Wiesbaden: VS-Verlag 2012, S. 67-100.
http://filmnetz.org/magazin/essays/die-filmtheorie-von-gilles-deleuze/29, aufgerufen am 02.02.2015.
http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=6672, aufgerufen am 03.02.2015